Zitat ‚Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehungen‘, Hartmut Rosa

  • Auszug II aus Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehungen, Hartmut Rosa, Berlin 2016
    Teil 2: Resonanzsphären und Resonanzachsen, Kapitel IX.2: Die Stimme der Natur, Seite 453 ff

    sorry, no english version!

„Die Vorstellung, dass der Kosmos (zu uns) spricht oder gar singt, ist keineswegs nur eine religiöse oder mythische, vormoderne Vorstellung. Davon (… zeugt kg) beispielsweise (…) auch die Tatsache, dass die von der ESA in ein hörbares Klackern umgewandelten Schwingungen des Kometen 67P/Tschurjumov führende Printmedien der Republik zu der Schlagzeile „Tschuri singt!“ veranlaßt haben[1] (…).
Angesichts des Umstandes, dass sowohl der menschliche Körper über seine circadianen und saisonalen Rhythmen als auch die Aktivitätsmuster vieler vor- oder außermoderner Kulturen auf den (scheinbaren) Lauf der Gestirne, das heißt vor allem auf den Wechsel der Tages- und Jahreszeiten sowie der Gezeiten reagieren, sind solche Resonanzvorstellungen auch wenig überraschend. (…) Die Vorstellung, dass Menschen in Resonanz mit der Natur, mit deren Rhythmen, Herausforderungen, Veränderungen und lokalen Besonderheiten leben, scheint auf diese Weise nicht nur naheliegend, sondern gewissermaßen >naturgegeben<, nicht nur im Blick auf Himmelskörper, sondern viel stärker noch hinsichtlich der terrestrischen Bedingungen: Körper und Sitten von Wüstenbewohnern, von Gebirgsstämmen, Waldvölkern, Inselstämmen oder nordischen Nomaden scheinen in enger Verbundenheit und Wechselwirkung mit den jeweiligen klimatischen, vegetativen und geologischen Bedingungen zu stehen.
Die Verschmelzung dieser Bedingungen zum Kollektivsingular der einen Natur, die uns gegenübersteht, so dass wir auf >ihre< Stimme hören können, ist dagegen eine Kulturleistung, die sich vermutlich erst vollziehen konnte, nachdem sich das kulturelle Leben von den Naturrhythmen und (den je lokalen) Naturgegebenheiten weitgehend emanzipiert hatte. Gerade weil wir die Nacht zum Tag machen können, die Regelung von Raumtemperaturen und -helligkeiten und das Nahrungsmittelangebot nach und nach den tages- und jahreszeitlichen sowie den klimatischen Einflüssen entzogen haben und mithin auch das soziale Leben weitgehend unabhängig von je lokalkonkreten Naturvorgaben regulieren, können wir die Natur als ein resonantes Gegenüber konzipieren, auf das es zu hören gilt. Mit anderen Worten: Die Stimme der Natur ist eine moderne Erfindung.[2] Sie setzt voraus, dass Mensch und Natur als geschlossene, jeweils ihre eigene Sprache sprechende und deshalb auch sich potentiell widersprechende Entitäten wahrgenommen werden können. Sie setzt darüber hinaus auch voraus, dass Menschen Natur auch in einem Modus der stummen, verdinglichenden Beziehung instrumentell bearbeiten, behandeln und erfahren können.
Diese relative Autonomie gegenüber den Vorgaben der Natur bedeutet jedoch nicht, dass die Kultur der Moderne ohne die resonante Natur auszukommen vermöchte. Tatsächlich ist jene Emanzipation die Voraussetzung dafür, dass die Natur zu einer – oder vielleicht sogar zu der – zentralen Resonanzsphäre der Moderne werden konnte. Resonanz, so habe ich zu zeigen versucht, ist nur möglich zwischen einem Subjekt und einem Gegenüber, das mit eigener Stimme zu sprechen vermag und sich dadurch als eine Quelle starker Wertungen erweist. Resonanzerfahrungen machen Menschen mithin nur dort, wo sie davon überzeugt sind, dass sie von etwas berührt werden, das (für sie) schlechthin, das heißt unabhängig von ihren konkreten Wünschen, Bedürfnissen und Begehrungen, wichtig ist. Ohne die Konzeption eines solchen (resonanzfähigen) Gegenübers fällt es Menschen zumindest schwer, wenn es ihnen nicht unmöglich wird, sich selbst zu bestimmen und eine Identität zu entwickeln.[3] Dies ist der Grund dafür, wieso die (auf den ersten Blick paradox anmutende) Idee, man müsse auf die Natur hören (oder in die Natur gehen), um sich selbst zu finden, in der Moderne eine ebenso vielfältige wie wirkmächtige und zählebige Gestalt annehmen konnte. Sie begegnet uns überall dort, wo Menschen in ihren Alltagspraktiken etwa der Überzeugung folgen, sie müssten dringend wieder einmal >in die Natur<, das heißt ins Freie, in den Wald,, an den Fluss oder in den Garten, um zu sich selbst zu kommen, oder wo sie tatsächlich durch die Wüste wandern, in die Berge gehen oder übers Meer fahren, um Identitätskrisen zu überwinden. Sie erwarten, dort Antworten zu finden. Der Rückzug in die (>unberührte<) äußere Natur gilt noch immer als eine der verlässlichsten Methoden, die Stimme unserer inneren Natur (gegen den >Lärm der sozialen Welt<) vernehmbar zu machen. In dieser Vorstellung lebt die in ihrem Ursprung romantische Idee einer heimlichen Korrespondenz und Resonanz zwischen innerer und äußerer Natur weiter. Die innere und die äußere Natur hören und verstehen zu lernen oder, mehr noch: die innere durch die äußere Natur zu begreifen, erscheint dabei als Voraussetzung für ein gelingendes Leben. Die Stimme der Natur verbindet in dieser »romantisch-expressivistischen« Traditionslinie der modernen Kultur[4] die innere mit der äußeren Welt, indem sie beide in ein Resonanzverhältnis setzt. Höre in dich hinein! Und Höre auf die Natur! Werden auf diese Weise zu zwei komplementären Imperativen, die in einer Haltung und Handlung verschmelzen können. (…)
Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Natur in der Kultur der Moderne als die zentrale Resonanzsphäre des Menschen konzipiert wird. In ihr begegnen die Subjekte einer Entität, welche die für Resonanz konstitutive Bedingung des tendenziell Unverfügbaren, Widerständigen, Eigensinnigen, aber eben auch des Antwortenden erfüllt. (…) Es erscheint durchaus plausibel, dass die objektiven Gegebenheiten des Landschaftsraumes dabei in eine leibliche Wechselwirkung mit dem Subjekt treten: Angesichts der Weite des Meeres oder einer Landschaft oder unter dem Eindruck von Sonne und Wärme, so sahen wir schon, verändern sich buchstäblich Atmung, Körperhaltung, Hautwiderstand und die Einstellung beziehungsweise Ausrichtung des Sinnesapparates, ändert sich unsere psychophysische Weltbeziehung; wir sind im Wald, auf dem Berg oder am Meer auf eine andere Weise in die Welt gestellt als im Büro oder im Shopping-Center. Aber wir sind dort eben auch anders in die Welt gestellt als ein traditioneller Fischer oder ein indigener Bergbewohner: Auch hier bestätigt sich, dass unsere Weltbeziehung selbst in ihren leiblichen Dimensionen immer kulturell und kognitiv mitgeprägt ist.
Die Sehnsucht und der Wunsch nach Verbundenheit mit einer resonanten Natur sind aber auch in den Alltagspraktiken der Spätmoderne omnipräsent. (..) Sie alle basieren auf der Idee, dass sich zwischen Subjekt und Naturobjekt oder Naturraum eine nichtinstrumentelle und nichtmanipulative Korrespondenzbeziehung herausbildet. Das Unverfügbare, aber eben doch auf unser Handeln Antwortende zeigt sich dabei durchaus auch im Schrebergarten, wenn die Blumen und Kohlköpfe bisweilen trotz optimaler Pflege eben nicht wachsen oder blühen oder wenn sie ganz anders wachsen als vorgesehen; und erst recht, wenn und wo sie wachsen ohne unser Zutun, unter unwahrscheinlichsten Bedingungen.
Nicht anders verhält es sich beim Umgang mit Haustieren. (…) Tatsächlich gibt es überwältigende Evidenzen dafür, dass Kinder gesünder, resilienter, kreativer und von größeren Selbstwirksamkeitserwartungen geprägt sind, wenn sie regelmäßig Kontakt zu Tieren und zu ausgedehnten Naturräumen haben. In ihnen machen sie sinnlich-praktische Erfahrungen mit Resonanzbeziehungen, deren therapeutischer Wert auch bei Erwachsenen inzwischen gut dokumentiert ist.[5]
Selbst dort, wo die Natur nur als Sehnsuchtsraum und gar nicht als Handlungssphäre in Erscheinung tritt (etwa in den Wandkalendern, die Aufnahmen von Bergen und Meeren, Wäldern und Blumen, Wiesen und Tieren zeigen, im Landlust-Magazin oder im Museum), wirkt sie sich als potentiell erschließbare Resonanzquelle noch auf die Weltbeziehung des modernen Menschen aus.[6] Es spricht daher einiges dafür, dass Martha Nussbaum diese Antwortqualität vor Augen hat, wenn sie »die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der gesamten Natur zu leben und sie pfleglich zu behandeln« zu den Grundfähigkeiten des Menschen und zu den unabdingbaren Voraussetzungen gelingenden Lebens zählt.[7]
Natur-Resonanz in diesem Sinne wird als etwas erfahren oder konzeptualisiert, das sich durchaus hinter dem Rücken der Akteure vollzieht. Sie erwächst aus der Überzeugung, dass >tief in uns<, an der Wurzel unserer Existenz und damit aller Sozialisation und Zivilisation vorgelagert etwas ist (unsere innere Natur), das mit der äußeren Natur oder den Elementen verbunden ist und das auf diese reagiert und antwortet – an unserem bewussten Denken und vielleicht sogar an unseren Empfindungen vorbei. (…)
Bei näherem Hinsehen offenbart sich allerdings, dass die institutionalisierte Weltbeziehung der Moderne mit Blick auf die Natur von einer dilemmatischen Spaltung geprägt ist, die markant in der vieldiskutierten Kluft zwischen Umweltbewusstsein und Umwelthandeln zutage tritt und die sich für diese soziale Formation insgesamt als verhängnisvoll erweisen könnte. Wie ich im Anschluss an Descola und Latour bereits dargelegt habe, zeichnet sich der kognitive und epistemische Horizont der Moderne gegenüber anderen Kulturen dadurch aus, dass er allen nichtmenschlichen Entitäten die Resonanzqualität abspricht und strikt zwischen einer beseelten Kultur und einer stummen Natur unterscheidet. In der Perspektive der naturwissenschaftlichen Weltsicht (…) ergibt die Vorstellung einer bedeutungsvollen Stimme der Natur schlicht keinen Sinn (…).
Die Resonanzbeziehung zur Natur etabliert sich nicht über kognitive Lernprozesse und rationale Einsichten, sondern sie resultiert aus praktisch-tätigen und emotional bedeutsamen Erfahrungen. (…) Das Dilemma besteht darin, dass sich diese erfahrene und gelebte Beziehung kognitiv nicht rechtfertigen lässt und dass sie in den institutionalisierten Weisen der Naturbearbeitung nicht vorkommen. Sie steht den beiden vorherrschenden Naturbearbeitungsformen der Moderne – der wissenschaftlichen Naturerforschung und vor allem der technisch-produktivistischen Naturaneignung – beziehungslos gegenüber, denn diese lassen Natur zu einer nur kausal und instrumentell mit uns verbundenen Rohstoffquelle einerseits und einem Gestaltungsobjekt andererseits werden. Wie ich andernorts zu zeigen versucht habe, hat dies zur Konsequenz, dass in unserem dominanten praktischen Naturumgang die vielleicht letzte verbliebene Quelle starker Wertungen tendenziell in ein Objekt schwacher Wertungen transformiert wird. (…) Soziale Akteure sehen sich im (gewiss noch nicht realisierten) Zeitalter umfassender Anthropotechniken (Sloterdijk) in einer Situation, in der die Natur, die es zu erfüllen oder zu entdecken gilt, potentiell oder tendenziell von ihnen selbst (oder ihren nächsten Verwandten) hergestellt worden ist beziehungsweise hergestellt werden kann. War es bisher (schlechthin) wichtig, den Willen der Natur zu respektieren, so wird jetzt der Wille der Natur unserem Willen unterworfen. Was wir tun wollen (schwache Wertung) und was wichtig oder wert ist, getan zu werden (starke Wertung) fällt der Tendenz nach zusammen. Wenn es aber zum Wesen des Menschen gehört, sich mittels starker Wertungen zu orientieren, führt das zu einer (ja durchaus beobachtbaren) weltbezogenen Orientierungslosigkeit und zum Verlust der Fähigkeit zur Selbstbestimmung.
(…)
Jene beziehungspraktische Tiefenangst – die letztlich nur die zeitgenössische Variante der modernen Urangst vor dem Verstummen der Welt ist – offenbart sich aber in vielen Aspekten des medialen, politischen und sogar des ökonomischen und wissenschaftlichen Öko-Diskurses der Gegenwart. Sie liegt der ebenso falschen wie hartnäckig sich haltenden Auffassung zugrunde, Menschen könnten die Natur (oder die Umwelt) zerstören; sie zeigt sich in den aus Sicht der Wissenschaft irrationalen Ängsten vor gentechnisch manipulierten Lebensmitteln, vor allem aber in der kulturell überaus mächtig gewordenen Vorstellung, unser soziales Fehlverhalten sei >schuld< an mehr oder minder jedem Erdbeben, Wirbelsturm, Tsunami, Lawinenabgang, Überschwemmungs- oder Dürreereigniss, das sich beobachten lässt.
(…)
Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bezweifle keineswegs, dass es überwältigende Belege für einen erheblichen menschlichen Anteil am Klimawandel gibt, dass die Industrieproduktion und die materielle Reproduktionslogik der Steigerungsmoderne enorme Konsequenzen für die Umwelt haben, die Artenvielfalt reduzieren, vielen Populationen die Lebensgrundlage entziehen usw. Es geht mir hier nur darum, sichtbar zu machen, dass die persistenten und von empirischen Erklärungsmöglichkeiten fast vollständig gelösten Deutungen solcher Naturereignisse als Rache der Natur, als Zurückschlagen der Naturoder als Schrei der misshandelten Natur ganz offensichtlich einer wirkmächtigen kulturellen Konzeption und einer Erfahrungsdimension entstammen, in der die Natur mit eigener Stimme sprechen kann und uns etwas zu sagen hat. Sie zeugen von einem gleichsam kontrafaktisch als resonant gedachten oder gewünschten Naturverhältnis und resultieren aus der schmerzlichen Abwesenheit privater Resonanzerfahrungen sowie aus der Angst vor einem Verlust der Natur als Resonanzsphäre.“

[1] (Im Original Fußnote 190) Vgl. dazu ausführlich Hartmut Rosa, »Tschuri singt?!«, in: Philosophie Magazin 01 (2015), S. 18.
[2] (Im Original Fußnote 192) Vgl. Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M. 1994, S. 539-680.
[3] (Im Original Fußnote 193) Das ist die Grundeinsicht sowohl der philosophischen Anthropologie Charles Taylors als auch der hier entwickelten Resonanztheorie. Vgl. dazu Rosa, Identität und kulturelle Praxis, S. 57-239.
[4] (Im Original Fußnote 194) Ebd., S. 351-366.
[5] (Im Original Fußnote 197) Siehe dazu Gebhard, Kind und Natur. Die Bedeutung der Natur für die psychische Entwicklung, Wiesbaden 2009, S. 76-87 und S. 108-114.
[6] (Im Original Fußnote 198) Ebd., S. 109, Gebhard berichtet von Studien, nach denen das Betrachten von Landschaftsbildern bei Studierenden einen signifikanten Erholungseffekt zeigen soll. Das Faktum, dass die entsprechenden Kalender und Magazine in anhaltend hohem Maß nachgefragt werden, scheint mir indessen Nachweis genug dafür zu sein, dass diese Form von >Naturalismus< eine psychosoziale Funktion erfüllt.
[7] (Im Original Fußnote 199) Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/M. 1998, S. 201.